Zählt man die Blütenblätter von Gänseblümchen, so stößt man immer wieder auf ganz bestimmte Werte. Sie gehören zu einer Menge von Zahlen, die der italienische Mathematiker Leonardo Fibonacci im 13. Jahrhundert erfunden hat. Ausgehend von den natürlichen Zahlen 1 und 2, konstruierte er die jeweils nächste Zahl durch Addieren der beiden vorausgegangenen. Die Folge lautet also: 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21, 34, 55, 89 und so weiter. Nach ihrem Erfinder werden sie bis heute als Fibonacci-Zahlen bezeichnet.
Was dieses mathematische Konstrukt mit der Blätteranzahl von Gänseblümchen zu tun haben soll, ist ganz und gar nicht offensichtlich. Tatsächlich treten in der Natur diese Fibonacci-Zahlen immer wieder auf – etwa bei der Anzahl der Spiralen in den gelben Köpfen von Sonnenblumen oder auch bei Tannenzapfen. Hat die Evolution eine Vorliebe für Fibonacci-Zahlen?
Die Natur wird von allgemeingültigen Gesetzen gelenkt
Doch nicht nur bestimmte Zahlen, auch gewisse geometrische Muster trifft man in der Natur häufig an. Die Spiralstruktur einer Nautilus-Schnecke und einer Galaxie sowie der innere Aufbau eines Rotkohls lassen sich mit der gleichen mathematischen Formel beschreiben – obwohl es hier inhaltlich keinen Bezug zu geben scheint.
Beobachtungen wie diese haben von jeher die Frage aufgeworfen, ob die Gesetze des Universums in der Sprache der Mathematik geschrieben sind und wir Menschen diese Mathematik nach und nach entdecken. Oder ist die Mathematik ein Konstrukt des menschlichen Geistes, mit dem sich glücklicherweise das Universum gut beschreiben und erfassen lässt?
„Freundlicherweise wird die Natur von allgemeingültigen Gesetzen und nicht von Feld-Wald-und-Wiesen-Regeln mit beschränkter Reichweite gelenkt“, sagt Astrophysiker Mario Livio von der Johns Hopkins University in Baltimore und Autor des Buches „Ist Gott ein Mathematiker?“. Überall im Universum gelten offenbar die gleichen Gesetze wie bei uns auf der Erde. Nur deshalb lässt sich zum Beispiel mit Computern vorab berechnen, wie man eine Sonde auf dem Mars weich landen kann.
Livio setzt sich seit Jahren mit der Frage auseinander, ob Mathematik eine Erfindung des Menschen oder eine dem Universum innewohnende Logik ist. Die akademische Welt der Mathematiker, Physiker und Ingenieure ist sich in dieser Frage keinesfalls einig. Viele sagen auch, dass sie es schlicht nicht wissen, und nennen es das Mysterium der Mathematik.
Higgs-Teilchen allein mithilfe der Mathematik vorhergesagt
Man darf sich schon darüber wundern, dass sich die ganze Welt grundsätzlich mit 32 Naturkonstanten und einer Hand voll Gleichungen beschreiben lässt. So lassen sich beispielsweise alle Phänomene des Elektromagnetismus und der elektromagnetischen Wellen mithilfe von nur vier, sehr übersichtlichen Gleichungen beschreiben – den sogenannten Maxwell-Gleichungen.
Besonders erstaunlich ist die prognostische Kraft des auf mathematischen Formeln beruhenden Theoriengebäudes der Physik. Da werden noch nicht entdeckte Planeten oder das berühmte Higgs-Teilchen allein mithilfe der Mathematik vorhergesagt – und dann mit den vorhergesagten Eigenschaften tatsächlich entdeckt. Mathematik ist ohne Zweifel eine Erkenntnismaschine.
Die Mathematikerin Maria Chudnovsky von der New Yorker Columbia University oder der theoretische Physiker Sylvester James Gates von der University of Maryland, der zudem wissenschaftlicher Berater von Barack Obama ist, haben bei ihrer Arbeit mehr das Gefühl, etwas zu entdecken als etwas zu erfinden.
Manche, wie der Physiker und Wissenschaftsphilosoph Max Tegmark vom Massachusetts Institute of Technology in Boston gehen sogar so weit zu sagen, dass die Mathematik – ähnlich wie in einem Computerspiel – die gesamte Realität steuert. Für Tegmark besteht die physische Welt ausschließlich aus Mathematik.
Vieles lässt sich mithilfe der Mathematik nicht abbilden
Andere Wissenschaftler wie der britische Physiker und Mathematiker Stephen Wolfram, der die berühmte Software „Mathematica“ konzipierte, halten das hingegen für eine Illusion. Die Mathematik könne nur deshalb vieles gut beschreiben, weil die entsprechenden Formeln und Modelle für genau diese Fragestellungen entwickelt und optimiert worden seien. Viele andere Dinge lassen sich hingegen gar nicht gut mit Mathematik abbilden.
Ingenieure etwa machen in ihrem Alltag die Erfahrung, dass sich ihre Problemstellungen nicht perfekt mithilfe der Mathematik bewältigen lassen. In aller Regel ist die Realität, mit der sie zu tun haben, so komplex, dass diese sich nur näherungsweise mathematisch in den Griff bekommen lässt.
Da müssen oft Gleichungen oder Parameter weggelassen werden, um überhaupt ein Ergebnis zu erhalten. Mathematisch gesehen, müssen diese auch gar nicht „genau richtig“ sein. Es reicht, wenn sie „gerade richtig genug“ sind. Hauptsache, die konstruierten Geräte funktionieren, die Brücke hält den Belastungen stand oder das Flugzeug fliegt sicher.
Die Frage nach dem Wesen der Mathematik bleibt faszinierend, auch wenn man sie möglicherweise niemals wird beantworten können. Vielleicht ist ja auch die Mathematik beides – vom menschlichen Geist erfundene Konzepte, in denen sich grundlegende Zusammenhänge des Kosmos entdecken lassen.
Mehr zum Thema gibt es am 15.1.2016 um 21.40 Uhr auf Arte in „Das Geheimnis der Mathematik“.
Author: Tanner Mathews
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